Spandauer Thesen - These 12

 

Freiheit ist immer die Freiheit des ‚Anders denken können'

Die ideologischen Paradigmen des Neoliberalismus – mehr Freiheit durch Stärkung der ‚Eigenverantwortung‘ der Privateigentümer und Abbau ‚staatlicher Gängelung‘ – bedrohen in ihrer politischen Umsetzung den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Die soziale Marginalisierung und Diskriminierung ökonomisch Benachteiligter macht das allgemein formulierte Freiheitsversprechen wieder für breitere Schichten zu einer enttäuschenden Farce. Die mit dem allgemeinen Wahlrecht erkämpfte Chance zu einer Demokratisierung der Gesellschaft wird durch den faktischen Entzug der Möglichkeit zu einer erkennbar sinnvollen Wahlbeteiligung wachsender Schichten der Bevölkerung ausgehöhlt und letztlich zerstört.

Gleiche Freiheit ist ohne die Möglichkeit einer wirksamen gesellschaftlichen Partizipation nicht denkbar, die nicht an das Privateigentum gebunden werden darf. Auch alle diejenigen, die für ihren Unterhalt auf den Ertrag abhängiger Erwerbsarbeit angewiesen sind, müssen gleiche Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Mitgestaltung bekommen. Die erneute Aneignung des Freiheitsbegriffs in einem umfassenden Sinne wird somit zu einer strategischen Aufgabe gerade für eine neue Politik der Arbeit.

 

Begründung

Die Paradigmen des Neoliberalismus – mehr Freiheit durch Stärkung der ‚Eigenverantwortung‘ der Privateigentümer und Abbau ‚staatlicher Gängelung‘ – bedrohen in ihrer politischen Umsetzung den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die soziale Marginalisierung und Diskriminierung ökonomisch Benachteiligter macht das allgemein formulierte Freiheitsversprechen für immer mehr Menschen als Fata Morgana kenntlich, hinter der tatsächlich soziale Verwüstungen vonstatten gehen.

Nicht nur steht das Marktprinzip ‚One dollar, one vote’ im Gegensatz zum Prinzip der demokratischen, klassenübergreifenden Aktivbürgerschaft ‚One person, one vote’.

Auch das schlichte Versprechen der Befreiung durch Staatsabbau ist für die meisten Mitglieder gegenwärtiger Gesellschaften irreal: Zwischen Realvermögensbesitzern – d.h. Kapital- oder Grundeigentümern – und der großen Mehrheit der Bevölkerung, die allenfalls langfristige Konsumgüter und aufgesparte Konsumfonds besitzt, klafft die Differenz einer ganz unterschiedlichen Angewiesenheit auf staatliche Vermittlung: Während die ersteren sich damit begnügen können, dass der Staat die Sicherheit ihres Eigentums garantiert, sind die letzteren selbst dort, wo es nur um die unverkürzte Reproduktion ihres Arbeitsvermögens geht, darauf angewiesen, dass eine staatliche Vermittlung sie vor den typischen Risiken der abhängigen Arbeit schützt und mögliche Konflikte sozial- und arbeitsrechtlich reguliert.

Ein Abbau der sozialstaatlichen Dimension der institutionalisierten Politik wirkt daher immer auch aus der Perspektive der abhängigen Arbeit als ein Abbau realer demokratischer Teilhabe.

Damit das allgemeine, gleiche und freie Wahlrecht nicht zu einer bloßen Formalität deformiert wird, dessen gesellschaftspolitischer Sinn nicht mehr verstanden werden kann, bedarf es der sozial- und arbeitspolitischen Unterfütterung: Nur so kann auf Dauer erreicht werden, dass demokratische Beteiligung auch aus der Perspektive derjenigen BürgerInnen, die kein Kapital besitzen, ein sinnvolles Instrument zur Mitgestaltung der eigenen Lebensverhältnisse bleibt.

In einer Situation, in der die Perspektive einer ‚kleinen Befreiung’ aus familialen, kulturellen oder sozialbürokratischen Abhängigkeitsverhältnissen immer noch ein reales Moment relativer Attraktivität der neoliberalen Versprechungen bildet, wäre es ein strategischer Fehler, dieses Moment der Freiheit zugunsten der Forderung nach Gleichheit zu vernachlässigen. Unter modernen Verhältnissen ist diese Befreiung von personaler Abhängigkeit mehr als eine bloße äußerliche Form, die auf Illusionen beruht – auch wenn sie angesichts indirekter, vor allem ökonomischer Abhängigkeiten massiven Begrenzungen unterliegt. Vielmehr ist der immer wieder neu entstehende ‚Überschuss’ an Motivation und Initiative zu nutzen, der dazu treibt, diese Begrenzungen in Frage zu stellen und zu überwinden: In der so verstandenen Forderung nach konkreter Befreiung für alle kann eine neue Politik der Arbeit eine Triebfeder finden, die neben die Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Tragbarkeit treten muss. Dabei wird die Forderung nach demokratischer Beteiligung und Mitgestaltung gerade im zentralen Bereich der Beteiligung an der gesellschaftlich notwendigen Arbeit konsequenterweise als gemeinsame Voraussetzung dieser unterschiedlichen Forderungsdimensionen zum unverzichtbaren Bindeglied zwischen diesen unterscheidbaren Linien einer neuen Politik der Arbeit. Dies ist kein einfacher Neuanfang, sondern kann und muss an die historischen Erfahrungen entsprechender ‚Aufbrüche von unten’ anknüpfen, wie sie etwa bereits mit dem Kampf um den Normalarbeitstag oder der Durchsetzung von allgemeinem Wahlrecht, Frauenstimmrecht oder Tarifvertrag verbunden gewesen sind.

Gleiche Freiheit ist ohne die Möglichkeit einer wirksamen gesellschaftlichen Partizipation nicht denkbar, die nicht an das Privateigentum gebunden werden darf. Auch alle diejenigen, die für ihren Unterhalt auf den Ertrag abhängiger Erwerbsarbeit angewiesen sind, müssen gleiche Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Mitgestaltung bekommen. Keine gesellschaftliche Großorganisation ist mehr als die Gewerkschaften darauf verwiesen, diese politischen Freiheitsrechte in Wirtschaft und Gesellschaft zu reklamieren und durchzusetzen. Die erneute Aneignung des Freiheitsbegriffs in einem umfassenden Sinne wird deshalb zu einer strategischen Aufgabe gerade für eine neue Politik der Arbeit. Die Freiheit als Freiheit des immer auch anders denken Könnens wäre dabei zugleich ein starker Impuls zur (weiteren) Selbstveränderung der Gewerkschaften selbst. Dies würde helfen ihre Zukunftsfähigkeit wie die unserer Gesellschaft zu sichern.

 

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