Spandauer Thesen - These 11

 

Die Vision einer neuen Gesellschaftsverfassung der sozialen Fairness und der Nachhaltigkeit

Die Idee einer neuen Gesellschaftsverfassung greift die Debatte um einen neuen Gesellschaftsvertrag auf und politisiert sie: Sie reklamiert den politischen Anspruch auf gesellschaftliche Selbststeuerung durch die von den Individuen getragenen Akteursgruppen und Handlungszusammenhänge in Bezug auf die institutionelle und moralische Gestaltung grundlegender sozialer, ökonomischer und politischer Verhältnisse. Gegenüber der herrschenden Dominanz des Marktes zielt sie darauf ab, die Wirtschaft wieder als einen sozialen Prozess zu denken, der hinsichtlich ihrer Zweckbestimmung im Dienste der Menschen und der Realisierung sozialen Fortschritts steht. Vollbeschäftigung, Verteilungsgerechtigkeit, Lebensqualität und Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen sind die wichtigsten Ziele.

Wege zur Verwirklichung derartiger Ziele entstehen nicht an den Börsen und Finanzplätzen dieser Welt. Sie müssen auf der Grundlage der Prinzipien der Fairness politisch begründet und demokratisch bzw. auf dem Wege der Demokratisierung gesellschaftlicher Beziehungen durchgesetzt werden. In einer Gesellschaft, die ebenso durch Pluralität wie durch kollektive Interessendivergenzen, strukturelle Machtdisparitäten und wachsende Ungleichheit geprägt ist, kommt sozialen Bewegungen und zivilgesellschaftliche Akteuren wie den Gewerkschaften dabei eine maßgebliche Rolle zu. Sie stehen vor der Herausforderung, die Konturen einer neuen Gesellschaftsverfassung im Sinne einer nachhaltigen (Weiter-)Entwicklung individueller Teilhaberechte, der Solidargemeinschaft als Ganzer, einschließlich der gesellschaftlichen Geschlechter- und Naturverhältnisse zu konkretisieren.

 

Begründung

Der Kampf um gute Arbeit, über den sich der Blick auf das Ganze der Arbeit öffnet, und der so auch die Frage nach dem guten Leben von Neuem auf die Tagesordnung setzt, eröffnet so auch eine Perspektive auf die Frage, wie unsere Gesellschaft aus dem Blickwinkel der lebendigen Arbeit neu verfasst sein sollte. Dies wäre ein Blickwinkel, unter dem auch die Visionen der traditionellen Arbeiterbewegung neue Konturen auf der Höhe der Herausforderungen unserer Zeit gewinnen könnten.

Die Frage danach, wie unsere Gesellschaft verfasst sein soll, greift die Debatte um einen neuen Gesellschaftsvertrag auf und politisiert sie: Sie reklamiert den politischen Anspruch der abhängig Arbeitenden oder der Menge der Vielen auf gesellschaftliche Selbststeuerung. Es geht um die Ansprüche der individuellen zivilgesellschaftlichen Zusammenhänge in Bezug auf die institutionelle und moralische Gestaltung grundlegender sozialer, ökonomischer und politischer Verhältnisse. Gegenüber der herrschenden Dominanz des Marktes zielt diese Frage darauf ab, die Wirtschaft wieder als einen sozialen Prozess zu denken, der hinsichtlich ihrer Zweckbestimmung im Dienste der Menschen und der Realisierung sozialen Fortschritts steht. Vollbeschäftigung eines neuen Typs, mehr Freiheit in der Arbeit, aber wohl auch von der Arbeit, Chancengleichheit aber immer noch auch Verteilungsgerechtigkeit, Lebensqualität und Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen sind die wichtigsten Ziele.

Wege zur Verwirklichung derartiger Ziele entstehen nicht an den Börsen und Finanzplätzen dieser Welt. Sie müssen auf der Grundlage der Prinzipien der Fairness politisch begründet und demokratisch bzw. auf dem Wege neuerlicher Demokratisierung gegen die neoliberale Entpolitisierung gesellschaftlicher Beziehungen durchgesetzt werden. In einer Gesellschaft, die heute ebenso durch Pluralität wie durch kollektive Interessendivergenzen, strukturelle Machtdisparitäten und wachsende Ungleichheit geprägt ist, kommt sozialen Bewegungen und zivilgesellschaftlichen Akteuren wie den Gewerkschaften dabei eine maßgebliche Rolle zu. Sie stehen vor der Herausforderung, die Konturen einer neuen Gesellschaftsverfassung im Sinne einer nachhaltigen (Weiter-)Entwicklung individueller Teilhaberechte, der Solidargemeinschaft als Ganzer, einschließlich der gesellschaftlichen Geschlechter- und Naturverhältnisse zu konkretisieren. Eine neue Politik der Arbeit ist verknüpft zu denken mit der Vision einer neuen Gesellschaftsverfassung der sozialen Fairness und der Nachhaltigkeit.

Sozialer Zusammenhalt, Integrations- und Entwicklungsfähigkeit ergeben sich in komplexen Gesellschaften nicht allein aus markförmig organisierten privaten Tauschaktionen. Vielmehr wird ein hochwertiges Angebot öffentlicher Güter, von der Daseinsfürsorge bis zur Bildungspolitik, auch in Zukunft entscheidende Grundlage eines hohen Zivilisationsniveaus darstellen. Gegenwärtig jedoch wächst die Prekarität in den Lebensverhältnissen vieler Menschen. Dies ist keine unabänderliche Folge einer sich verändernden Weltwirtschaft, sondern Teil eines strategischen Versuchs der Stabilisierung und Neuformierung bestehender Herrschaftsverhältnisse, der auf der Institutionalisierung von Flexibilität, Zufallsabhängigkeit und Zukunftsunsicherheit als Lebensmelodie basiert. Die Regeln wirtschaftlicher Freiheit werden über die der sozialen Freiheit gestellt und die Eigentumsmächtigen diktieren den Schwächeren die Bedingungen gesellschaftlicher Kooperation. Es gilt das Recht des Stärkeren: Er nimmt, ohne selbst etwas zu geben und definiert diesen Akt obendrein als soziale Großzügigkeit. Teilhabe wird allenfalls noch gewährt, Beteiligung aller ist jedenfalls keineswegs mehr selbstverständlich zwingend.

Eine neue Gesellschaftsverfassung wird jedoch nicht allein aus veränderten parlamentarischen Mehrheiten resultieren. Ein tatsächlicher Politikwechsel hin zu einer Ökonomie für den Menschen erfordert vielmehr auch, der hegemonialen Ideologie des Marktradikalismus alternative Vorstellungen des „guten Lebens“, von ökonomischer Effizienz und gesellschaftlicher Nützlichkeit entgegen zu setzen. Wo solche Vorstellungen eines vernünftigen Ganzen fehlen, da bleibt Politik richtungslos und zerfällt in unzusammenhängende Einzelmaßnahmen. Das hat die Periode neo-sozialdemokratischer Politik in Europa am Beginn des 21. Jahrhunderts gezeigt.

Bei der Bestimmung dessen, wie wir ein „gutes Leben“ gemeinsam mit anderen und in Vorsorge für zukünftige Generationen leben wollen, wird der Frage, wie die gesellschaftliche Arbeit gestaltet werden soll, eine zentrale Rolle zukommen. Die bezahlte Erwerbsarbeit stellt dabei eine wichtige Schnittstelle dar. Einerseits drängt die Logik des ökonomischen Systems von hier aus in den Lebensalltag und in die Sozialbeziehungen der Menschen. Andererseits kommen hier ganz praktisch Partizipationsansprüche und soziale Werte zur Geltung, die über Konkurrenz und Wettbewerb hinaus reichen und die durch eine neue Gesellschaftsverfassung gestärkt werden sollen. Ein Großteil der gesellschaftlich geleisteten Arbeit entfällt aber auf unentgeltliche Tätigkeiten. Obgleich diese für das Funktionieren der Gesellschaft unerlässlich sind (etwa in Erziehung, Versorgung oder Pflege), erfahren sie kaum entsprechende soziale Anerkennung. Eine neue Gesellschaftsverfassung müsste daher auch das Verhältnis von bezahlter und unbezahlter gesellschaftlicher Arbeit neu justieren. Dies gilt für die Verteilung der verschiedenen Arbeiten und ihre Bewertung, das Verhältnis von Arbeit und Einkommen, die qualitative Ausgestaltung und Organisation der einzelnen Arbeiten, wie für die kooperative Verknüpfung zwischen ihnen. Aber das gilt auch für die Art und Weise, wie wir die Natur dabei behandeln wollen.

Praktisch kann die Vision einer neuen Gesellschaftsverfassung letztlich erst im Ergebnis sozialer und politischer Auseinandersetzungen werden, die an die Alltagserfahrungen, Widersprüche, Hoffnungen und Erwartungen der Menschen anknüpfen. Daher sind alle, die an einer solidarischen Ausgestaltung der Gesellschaft interessiert sind, aufgefordert und eingeladen, an dieser Vision mitzuarbeiten.

 

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