Spandauer Thesen - These 8

 

Gegen das falsche Freiheitsversprechen des Neoliberalismus

Das falsche Freiheitsversprechen des Neoliberalismus entlarvt sich selbst. Das Versprechen des Neoliberalismus , die Menschen von Traditionen und bürokratischen Zwängen als vertragsfrei auf sich allein gestellte „homines oeconomici‘ zu befreien, verschweigt die dadurch zugleich hergestellten neuen Abhängigkeiten und Unterwerfungszwänge: Unter seinem Deckmantel vollzieht sich ein Wiedererstarken von Herrschaft und Unterwerfung. Das wird von den Betroffenen schmerzhaft erfahren – und mit Resignation oder Widerstand verarbeitet.

Der Weg in die reine Marktgesellschaft des Neoliberalismus verspricht eine stetig wachsende Reichtumsproduktion, wenn nur bürokratische Fesseln für unternehmerisches Handeln entfallen. Zugleich verheißt er mehr Freiheit für die Einzelnen. Für immer mehr Menschen soll diese Freiheit gerade auch in der Sphäre der Erwerbsarbeit entstehen. Aber die Menschen finden sich in einem neuen Spannungsverhältnis von Selbstbefreiung und Ausbeutung wieder. Prekarisierung ihrer Arbeitsverhältnisse droht zunehmend auch denen, die noch im Zentrum des Erwerbssystems stehen. Erfahrbar wird so: Der Einzelne allein, gedacht nach dem Bild des homo oeconomicus, ist niemals frei. Die privatisierte Individualität bedeutet vielmehr Unfreiheit.

 

Begründung

Gemessen an der bisherigen linken Kritik am Fordismus könnte man bei dem Freiheitsversprechen des Neoliberalismus von einer paradoxalen Wunscherfüllung sprechen. Jedenfalls für die modernen Wissensarbeiter und -arbeiterinnen in ihren vernetzten Teams scheinen in der Sphäre der Erwerbsarbeit selbst neue Freiheiten entstanden zu sein. Aber die Menschen – von denen aus der klassischen gewerkschaftlichen Kernklientel, über die wachsende Zahl derer, die an den Rand des Erwerbsarbeitssystems in prekäre Beschäftigungsverhältnisse gedrängt werden oder schon aus dem Erwerbsarbeitssystem heraus gefallen sind, bis hin zu den modernen WissensarbeiterInnen - betrachten den voranschreitenden Abbau der in der fordistischen Phase durchgesetzten sozialen Sicherungssysteme mit Misstrauen, mag er auch durch noch so viele Gutachten „von oben“ begründet werden. Prekarität entsteht überall. Die Formen der flexiblen und selbstverantwortlichen Arbeit verbinden die ‚neuen Leistungsträger und -trägerinnen’ scheinbar mit den halb ausgegrenzten Prekären. Dieser Schein ist eben so sehr Ernst zu nehmen, wie aufzulösen: Einerseits, indem durch wirksame Mechanismen der Grundsicherung die Gefahr eines Absturzes in die absolute Armut gebannt wird, so dass die unteren Bereiche der Prekarität vom Konkurrenzdruck entlastet werden. Und andererseits, indem Konsultations- und Qualifizierungsverpflichtungen funktional definiert und nicht nachdem Beschäftigungsstatus hierarchisierend zugeteilt werden. Die Drohung der Exklusion, wie sie durch die neoliberale Revolution forciert wird, bedroht die Integrationskräfte der Zivilgesellschaft. Die Menschen, die neuen individuellen zivilgesellschaftlichen Subjekte, reagieren auf die Reformen aus neoliberalem Geist, die mächtige Instanzen unserer Gesellschaft ihnen als unausweichlich verkünden, mit Skepsis.

Gerade auch die modernen WissensarbeiterInnen mit erweiterten Spielräumen in vernetzten Teams, aber unter den verschärften Zwängen einer nicht mehr hinterfragten, finanzmarktgetriebenen Globalisierung bewegen sich als Einzelne im Spannungsverhältnis von Selbstbefreiung und Selbstausbeutung. Sie erleben sich nicht selten eher als moderne ‚Arbeitssklaven‘ denn als freie Bürger einer Gesellschaft, die sich noch über ihre Entwicklungsziele im politischen Prozess verständigen würden.

Es herrscht „TINA-Politik“ (“there is no alternative“). Doch auch für am Markt gefragte junge hoch qualifizierte Menschen wird spürbar: Ein Individuum zu sein, bedeutet nicht notwendig, frei zu sein. Die Art von Individualität, wie sie die spätmoderne oder postmoderne Gesellschaft anbietet und in dieser Gesellschaft auch tatsächlich am weitesten verbreitet ist – die privatisierte, auf die Figur des Privateigentümers zurückgeschnittene Individualität bedeutet für die Allermeisten eine gesteigerte Unfreiheit. Und der gesamtwirtschaftlich absurde Vorschlag, diese individuelle Freiheit durch mehr und längere Erwerbsarbeit für alle zu verwirklichen, bedeutet in Wahrheit die Fesselung aller an die fremdbestimmte Sphäre der abhängigen Erwerbsarbeit als einer Sphäre der Unfreiheit.

Erfahrbar wird so: Der Einzelne allein, gedacht nach dem Bild des homo oeconomicus, ist niemals frei. Die privatisierte Individualität bedeutet vielmehr Unfreiheit. Freiheit in der Zivilgesellschaft muss im Raum der Politik entfaltet werden. Die Chance für eine gewerkschaftliche Arbeitspolitik liegt nicht zuletzt in der Neubesetzung des Freiheitsbegriffs.

 

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