Europa

 

Europa neu begründen

Europäische Politik ist nicht leicht zu fassen. Zum einen, weil sie neuartig und in mehreren Hinsichten einzigartig ist. Zum anderen aber auch, weil sie von mehreren Schichten politischer Legenden überlagert wird, die sie legitimieren soll. Ihren wirklichen Inhalt und ihre wirkliche Funktionsweise wird dadurch verdeckt, so dass immer wieder unklar wird, welchen Anteil die Bürgerinnen und Bürger an europäischer Politik haben und wie sie in sie eingreifen könnten.

In Bezug auf die Europäische Integration gibt es ein lähmendes Vorurteil in scheinbar gegensätzlichen Ausprägungen: ‚EuropabefürworterInnen’ ebenso wie ‚EuropakritikerInnen’ sind sich darin einig, dass die zentrale politische Frage lautet, ob ‚Europa’ gut ist oder vielmehr schlecht. Das ist aber schon längst nicht mehr die Frage – wenn es denn je eine richtige Fragestellung war – jedenfalls nachdem die europäische Integration mit einer gemeinschaftlichen Industriepolitik zunächst im Bereich der Grundstoffindustrien von Kohle und Stahl’‚ im ‚gemeinsamem Markt’ mit gemeinschaftlicher Agrar- und Handelspolitik und dann in den großen Integrationssprüngen der 1990er Jahre praktisch irreversible Fakten geschaffen hat. Einen Ausstieg aus der Europäischen Integration kann sich inzwischen kein Mitgliedstaat mehr leisten, so dass sich die europäische Dimension der Politik überall als ein bedeutender Bereich etabliert hat. Die politische Frage ist also schon längst nicht mehr, „ob Europa oder nicht“, nicht einmal mehr „wie viel Europa“ – sondern nur noch die Frage, welcher Politik diese integrierten europäischen Prozesse und Strukturen dienen bzw. welchen sie dienen sollen.

Die Europäische Union funktioniert gegenwärtig als ‘Globalisierungsverstärker’:
Erstens, alle Zwänge des Weltmarktes in Richtung auf Deregulierung und Flexibilisierung werden durch die Europäische Union noch weiter verstärkt, weil Deregulierung auf der Grundlage der institutionalisierten Integrationsmechanismen immer möglich ist und sich, wenn gar nichts passiert, über das Herkunftslandprinzip ‘von selbst’ durchsetzt. Regulierung bleibt dagegen systemisch gegenüber der Deregulierung zurück, einfach, weil in allen Bereichen, wo das Einstimmigkeitsprinzip angewandt wird, Regulierung nur einstimmig möglich ist. Wenn gleichzeitig das Herkunftslandprinzip gilt, werden die Länder, die aufgrund besonders weit fortgeschrittener Deregulierung Konkurrenzvorteile für sich erwarben, einer Regulierung nicht zustimmen, die für sie einen Verlust dieses ‘Standortvorteils’ bedeuten würde.
Zweitens gilt: Während die nationalstaatlichen WählerInnen allenfalls in mehrjährigen Abständen auf nationalstaatlicher Politikebene die Mitglieder des Ministerrats auswechseln können, indem sie bei nationalen Wahlen neue Mehrheiten schaffen, die zu neuen Regierungen führen, wird es dem Ministerrat daher immer leichter fallen, mit den für europäische ‘Standortpolitik’ wichtigen Kapitalinteressen der europäischen ‘global players’ gemeinsame Politik zu machen, als anders gelagerte Mehrheitsinteressen der von ihm vertretenen Bevölkerungen zu vertreten. Der europäische Demokratisierungsmangel hängt insofern immer auch damit zusammen, dass es bestimmte, ohnehin starke Interessen sehr viel leichter haben, ihren Anliegen und Forderungen auf europäischer Ebene Gehör zu verschaffen.

Diese beiden Faktoren wirken grundsätzlich in dieselbe Richtung, nämlich in die einer Verstärkung der Standortkonkurrenz der gesamten EU auf dem Weltmarkt und damit als Verstärkung der ‘Sachzwänge’, die von dem Globalisierungsschub in der Weltwirtschaft ausgehen. Sie wirken zugleich aber auch innerhalb eines komplexeren institutionellen und europapolitischen Kompromissgleichgewichts, wie es sich zwischen den unterschiedlichen integrationspolitischen Grundvorstellungen eingependelt hat, deren kontinuierliche Einwirkung innerhalb der EU-Entwicklung immer wieder spürbar ist.

 

Europa ist gespalten - wirtschaftlich, politisch, gesellschaftlich

Deutschland ist eines der wenigen Mitglieder des Euro-Clubs, das den Einsturz der Jahre 2008/2009 überwinden und seine Reichtumsproduktion wieder stabilisieren konnte.

Dagegen lässt sich von den so genannten Krisenstaaten bis nach Frankreich ein eigentümlicher Konjunkturverlauf nachzeichnen: Auf einen zaghaften Aufschwung 2010 folgte ein erneutes Eintauchen in den Krisenprozess mit einem dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Hier zeigt sich, dass Politik so einflusslos nun doch nicht ist: Das betrifft zunächst die Abfederung der unmittelbaren Krisenfolgen in allerdings nur wenigen Monaten einer Rückerinnerung an keynesianische Politik. Das betrifft dann aber das abrupte Umschalten auf eine radikale Austeritätspolitik, die mit Kürzungs-, Entlassungs-, Deregulierungs- und Privatisierungsmaßnahmen einen ökonomisch-politischen Zyklus geformt hat, der das, was einmal integriert werden sollte, in Gewinner und Verlierer auseinanderreißt.

Die neoliberale Spaltung geht noch tiefer. Was Jürgen Habermas als die „Gefahr eines ‚deutschen Europas’ bezeichnet“, ist das Zusammenwirken zweier Anmaßungen: Zum einen der Haltung deutscher Bundesregierungen, die sich in der Rolle eines Lehr- und Zuchtmeisters sehen, der heute mit dem Fiskal- und später auch noch mit einem Wettbewerbspakt die europäische Entwicklungsrichtung festlegt und über politisch fragwürdige Institutionen wie die Troika zugleich die Umsetzungsfortschritte kontrolliert. Zum anderen die europäischen Spitzeninstitutionen – der Europäische Rat der Regierungschefs und die EU-Kommission-, die im Rahmen des Austeritätsregimes Zuständigkeiten auf die europäische Ebene verlagern, die bar direkter demokratischer Legitimation die politische Integration im Sinne gleichberechtigter und selbstbestimmter Vergemeinschaftung ad absurdum führt.

Das Forum Neue Politik der Arbeit analysiert und diskutiert die Herausforderungen, denen sich die Gewerkschaften in diesen Krisenzeiten stellen müssen, auf mehreren Jahrestagungen und Workshops.

Die Tagungsprotokolle und ein aktueller Reader zur Europapolitik stehen hier zum Download bereit.