Spandauer Thesen - These 2


Sozialabbau als Konsequenz der „neoliberalen Revolution“

Die von dem neoliberalen Einheitsdenken vorangetriebene Deregulierung, Flexibilisierung und Entgrenzung der Arbeit, kann gemäß der Logik der vorherrschenden Politikrichtung nur dann funktionieren, wenn zugleich der bestehende Sozialstaat weitestgehend abgebaut wird und wenn die Institutionen zur Durchsetzung von ArbeitnehmerInnenrechten geschwächt oder „abgewickelt“ werden. Diese „neoliberale Revolution“ bedingt den Abbau sozialer Regulierungen und plakatiert sie als Befreiung des Individuums von bürokratischer Bevormundung.

In der Wirklichkeit funktionieren die neoliberalen Rezepte bislang erkennbar nicht: Die versprochenen Effekte, mehr Wachstum und Abbau der Arbeitslosigkeit treten nicht ein, obwohl immer neue Wellen des Sozialstaatsabbaus durchgesetzt worden sind. Vielmehr droht uns das neoliberale Einheitsdenken in eine lange Phase der Stagnation, Krisen, Konflikte und kulturellen Verarmung zu führen, während es zugleich zu einer verschärfte Polarisierung von Arm und Reich kommt.

 

Begründung

Der Neoliberalismus unterstellt atomisierte menschliche Subjekte als zeitlose Privateigentümer, die eine unendliche und unerschöpfliche Welt jeder für sich bewohnen, und nur durch Warenaustausch mit einander in Kontakt treten, wobei sie sich rational an ihrem Vorteil orientieren und eben dadurch das größte Glück der größten Zahl zustande bringen. Diese kontra-faktische Grundannahme macht nicht nur jede Anwendung neoliberaler Konzepte unter realen gesellschaftlichen Bedingungen zu einem gewaltsamen und letztlich unkontrollierbaren Akt, indem sie alle bestehenden Verhältnisse von Ungleichheit und Unterwerfung für legitim erklärt. In der Konsequenz führt das, wie schon von Hayek geradezu propagiert, zur Bestreitung jeder Möglichkeit einer bewussten Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse von Menschen durch Menschen. Dieser Ausgangspunkt aller neoliberalen Argumentationen setzt auch auf Seiten ihrer Anhänger eine ganz einseitige Wahl der individuellen Freiheit voraus, um normativ akzeptabel werden zu können – indem sie alle Formen des Zusammenhandelns und –lebens zu einem bloßen Instrument individueller Vorteilsnahme erklärt.

Eine Konsequenz dieses, heute hegemonialen‚ neoliberalen ‚Einheitsdenkens‘ ist der fortschreitende Abbau sozialer Sicherungssysteme. Sie gefährden aus seiner Sicht den Erfolg des heute notwendigen Wettbewerbsstaats. Deregulierung, Flexibilisierung, Entgrenzung von Arbeit werden vorangetrieben und die Politik müsse hier „naturgesetzlichen“ Zwängen folgen. Gesetzt wird auf gewachsene Bewältigungspotentiale der Einzelnen im Zeichen einer Subjektivierung von Arbeit, einer zunehmenden Forderung nach und Befähigung zum ‚Selbertun‘. Versprochen wird zugleich, dass ein Abbau von bevormundender staatlicher Bürokratie und institutionell befestigter Regulierung Marktdynamiken freisetzen und neue Beschäftigung innerhalb des Erwerbssystems schaffen wird.

Alle Regelungen und Institutionen, durch die gesellschaftliche Rechte und politische Freiheiten zur Gesellschaftsgestaltung über die klassischen Gruppen von Privateigentümern hinaus auch für abhängig Arbeitende real werden, die außerhalb ihres Arbeitsvermögens über kein nennenswertes Eigentum verfügen, haben aus neoliberaler Sicht den Mangel, als Störfaktoren für ein ‚reines’ Funktionieren der Märkte, insbesondere der Arbeitsmärkte, zu wirken. Als im weitesten Sinne ‚sozialstaatliche’ Regulationsformen sind in diesem Sinne nicht nur Systeme der Sozialversicherung zu nennen, sondern auch das breite Spektrum von Institutionen, das von der öffentlichen Gesundheitsvorsorge (à la Pasteur oder à la Virchow) über kollektive Tarifverträge und gewerkschaftliche Interessenorganisationen bis hin zum Arbeits- und Arbeitskampfrecht reicht. In dieser gesamten Breite zielt das neoliberale Politikprojekt darauf, derartige Störungen des Marktgeschehens zwischen individuellen Marktsubjekten zu beseitigen. Damit zielt es auf die Aufkündigung sämtlicher etablierter Formen politischer Klassenkompromisse zugunsten einer atomisierten Austragung durch unbeeinträchtigte Marktprozesse.

In der sozialen Wirklichkeit bewähren sich die Glaubenssätze und Rezepturen des neoliberalen Einheitsdenkens seit über dreißig Jahren erkennbar nicht. Trotz stetig neuer politisch verordneter Sparkuren für die abhängig Arbeitenden und immer neuer Wellen des Sozialstaatsabbaus wächst und verfestigt sich die Massenarbeitslosigkeit. Das neoliberale Einheitsdenken droht uns so in eine lange Phase von Stagnation, Krisen, sozialen Konflikten und kultureller Verarmung zu führen, zumal es fortgesetzt eine verschärfte Polarisierung von Arm und Reich weltweit befördert.

Die neoliberal inspirierten Strategien der Aufkündigung der ‚fordistischen’ Klassenkompromisse der 1950er und 1960er Jahre unter der Devise von Deregulierung und Privatisierung hatten weitreichende Auswirkungen sowohl auf die realen Lebensverhältnisse der großen Mehrheit der Menschen, als auch auf die Muster ihrer Wahrnehmung und Bewältigung: Während sich zum einen die Lebensbedingungen und der Lebensstandard zugleich pluralisierte und polarisierte, zunehmend auch wieder in Gestalt absoluter Armut, verbreiteten sich zugleich erneut Auffassungen, nach denen jede und jeder ‚selbst schuld’ an der eigenen Lebenslage sei und dem gemäß auch politische Versuche, die ‚Faulen’ durch Sanktionen zu ‚motivieren’. Dabei führte insbesondere für viele Frauen der Weg aus der persönlichen Abhängigkeit in der Hausfrauenexistenz in neue Abhängigkeiten aufgrund prekärer Beschäftigungsverhältnisse.

Eine weitgehende ‚Entfesselung’ der kapitalistischen Akkumulation führt immer wieder zu dem paradoxen Ergebnis, dass dadurch kulturelle, soziale und ökologische Voraussetzungen destabilisiert oder sogar zerstört werden, auf deren Vorhandensein ein mittelfristig erfolgreich betriebener Prozess der Kapitalakkumulation beständig angewiesen ist. Deswegen verwickelt sich die neoliberale Politik des Sozialstaatsabbaus immer wieder selbst in Widersprüche, auf die sich eine Gegenstrategie stützen kann, die sich nicht in der Situation einer beständigen Defensive einrichten will. Eine demokratische Politik der Erneuerung des Sozialstaates kann sowohl an den veränderten Sicherungsbedürfnissen abhängig Arbeitender anknüpfen, als auch an diesen Widersprüchen ansetzen: Indem sie etwa verstärkt auf egalitäre und bürgerrechtliche Elemente setzt und das Versprechen des ‚empowerment’ auch von Minderheiten aufgreift.

 

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